Die schnelle Geburt des shitty first draft oder Das eine perfekte Auge
Kennst Du das? Du fängst an zu schreiben. Die ersten Sätze fließen. Es fühlt sich halbwegs leicht an. Dann schaust Du Dir die letzten Sätze an. „Das geht so nicht!“ Du korrigierst die letzten Sätze. Dir fällt auf: „Der Anfang geht so auch nicht.“ Du korrigierst den Anfang. Bist nicht zufrieden. Machst Dir einen Kaffee oder Tee. Beginnst noch mal von vorne. Da – wieder so ein Satz, der so nicht geht! Du fängst an zu korrigieren … und beißt Dich fest.
Eine halbe Stunde oder Stunde ist vergangen und Du hast einen Absatz geschafft. Oder auch zwei. Aber nicht die zwei oder auch zehn Seiten, die Du eigentlich heute schreiben wolltest. Was ist passiert?
Viki King, amerikanische Drehbuchlehrerin verwendet hierfür ein Bild, das mich jedes Mal zum Lachen bringt (gerade weil es so fürchterlich wahr ist): Schreiben ist wie ein großer Brocken Lehm, den wir zu etwas formen wollen. Sagen wir, wir wollen einen Menschen daraus formen. Wenn wir uns – statt uns zunächst mal auf die groben Umrisse zu konzentrieren – gleich auf Einzelheiten stürzen, zum Beispiel das rechte Auge, dann haben wir nach zwei Stunden einen riesigen, unförmigen Brocken Lehm vor uns – aus dem EIN PERFEKTES AUGE heraus schaut.
Das ist genau der Punkt, der die meisten von uns stecken bleiben lässt. Es fing so wunderbar an – dann haben wir uns „verfranselt“. Festgebissen an ein paar Worten oder Sätzen, die wir doch genauso auch hätten stehen lassen können – um sie später feinzuschleifen, wenn der erste Entwurf erst mal steht.
Für mich ist es ganz wichtig – eben genau aus dieser Erfahrung, mich haben schon viele perfekte Augen aus Lehmbrocken angeglotzt – den ersten Entwurf eines Buches MÖGLICHST SCHNELL zu schreiben.
Wenn wir uns vornehmen, möglichst schnell zu schreiben, halten wir uns nicht auf. Wir können in einer anderen Farbe oder in Klammern ergänzen: „Hier muss noch was rein. Hier fehlt noch was. Hier muss ich noch recherchieren. Hat er wirklich eine Allergie gegen Stöckelschuhe? …“ Wir können uns all den offenen Fragen später widmen. Jetzt ist Zeit für die ERstgeburt. Und die ist wild. Und die hat Fehler (siehe das Wort Erstgeburt gerade eben). Sie ist vielleicht zu lang. Oder zu kurz. Oder zu „langweilig“ (wobei ich Dich dazu einlade, das Bewerten hier einfach mal sein zu lassen). Die Erstgeburt ist, wie sie ist.
Doch weißt Du, wozu die Erstgeburt gut ist?
Sie ist Deine Arbeitsgrundlage. Sie ist Dein Lehmbrocken! Denn wenn Du sie nicht schreibst, dann hast Du nichts, an dem Du weiter gestalten kannst!
Also: Fang mit dem groben Umriss Deines Menschen (Buches) an. Wie sieht er aus, wie groß ist er? Welches Geschlecht hat er/sie? Sitzt er oder steht er? Liegt er oder kniet er? Schreibst Du ein Kinderbuch oder einen Roman? Einen Ratgeber oder einen Krimi?
Schreibe das erste Kapitel, so schnell wie möglich. Schreibe das zweite Kapitel, so schnell wie möglich. Schreibe auch alle weiteren Kapitel, so schnell wie möglich.
Und dann schaue stolz auf Deinen Lehmbrocken, der nun schon Form angenommen hat. Vielleicht ist er noch nicht perfekt – das braucht er in diesem Stadium auch nicht zu sein. Er ist „Material“, das Du immer weiter bearbeiten wirst, bis es sich für Dich „vollkommen“ anfühlt. Bis Du den Punkt setzt. Für diesen Moment. In ein paar Jahren würdest Du dieses Buch mit großer Wahrscheinlichkeit sowieso anders schreiben. Schreibe dieses eine Buch in diesem Moment.
Ich freue mich auf all die Bücher, die Du in die Welt bringen wirst!